Thomas Gehle

Geschäftsführer der Stage School

Musical-Zeitung.de: Im Internet ist von der „neuen“ Stage School die Rede. Was ist neu an der Stage School? Was hat sich nach mehr als 25 Jahren durch den Umzug vor einem Jahr geändert?

Thomas Gehle:
Neu ist erst einmal das Gebäude. Früher war die Schule verteilt auf vier Gebäude. Das war unheimlich schwierig für den Stundenplan und kompliziert für die Schüler. Denn letztendlich fühlten die sich nicht immer so heimisch, weil die Schule einfach hier und dort war. Wenn man im Winter dann vom Tanzunterricht zum Gesangsunterricht gehen wollte und das Gebäude dafür wechseln musste im Regen oder Sturm, war das schon irgendwie lästig. Jetzt haben wir alle Schüler unter einem Dach, und dadurch gibt es ein tolles Gemeinschaftsgefühl. Wir haben nun auch perfekte Räume, denn im alten Gebäude hatten wir teilweise Räume mit Säulen darin, auch Räume, in denen man das Fenster nicht aufmachen konnte oder Räume, die eine L-Form hatten. Jetzt sind unsere Räume so geschnitten, wie wir sie brauchen. Wir haben nun sieben Tanzräume. Vorher hatten wir drei. Und wir haben auch ein gemeinsames Lehrerzimmer, wo alle Dozenten sich treffen und wo sie sich austauschen können. Vorher hatten wir den Tanzbereich in einem Gebäude, den Schauspielbereich in einem anderen und den Gesangsbereich in einem weiteren. Nun ist alles zusammen. Wenn bei uns die Dozenten ihre Pausen machen, schauen die einfach mal in andere Unterrichtsräume und gucken, welche Fortschritte ihre Schüler in anderen Bereichen machen. Die Dozenten erhalten so ein viel genaueres Bild und ein besseres Gefühl für die Stärken und Schwächen einzelner Schüler.




 

Thomas Gehle Foto: Musical-Zeitung.de

Musical-Zeitung.de: Was macht die Stage School auch nach über 25 Jahren heute immer noch einzigartig?

Thomas Gehle:
(lacht) Gute Frage! Also, es gibt und gab ja etliche Schulen, die zwischendurch aufgehört haben. Uns gibt es seit mehr als 25 Jahren. Das heißt: Irgendetwas müssen wir richtig machen (lächelt). Wir sind unabhängig, gehören keinem Konzern an und müssen nicht für die Gästeunterhaltung auf irgendwelchen Schiffen ausbilden. Das ist ein großer Vorteil. Wir bilden für den Markt aus, und der Markt ist vielfältig. Es gibt in Deutschland kein großes Musical, bei dem nicht mindestens eine ehemalige Schülerin oder ein ehemaliger Schüler der Stage School mitwirkt. Selbst bei „Der König der Löwen“ ist ein ehemaliger Schüler von uns schon seit 13 Jahren dabei. Das Gute ist, dass es uns schon so lange gibt. Unsere ersten Absolventen sind natürlich in anderen Positionen, wenn sie in der Branche geblieben sind. Dann arbeiten die als Regisseur, Choreograf oder Dozent. Man trifft sich also immer mal wieder, und das ist schon etwas Besonderes- fast wie bei einer großen Familie. Ich selbst könnte aber kein Dozent sein, denn manchmal ist das mit den Schülern wie mit den eigenen Kindern. Die glauben teilweise, so manches besser zu wissen, wenn sie in der Ausbildung sind. Das Verständnis dafür, warum manche Ausbildungsabläufe so sind wie sie sind, kommt oft erst mit der beruflichen Praxis. So kommt auch die Anerkennung für die Arbeit der Dozenten oft erst Jahre nach der Ausbildung. Ich kann mir vorstellen, dass es für die Dozenten manchmal schwierig sein muss, sich während der Ausbildung bei den Schülern durchzusetzen. Deshalb möchte ich kein Dozent sein (lacht).

Musical-Zeitung.de: In der Selbstbeschreibung der Stage School und ihrer Ausbildungsweise wird das Wort „Kompetenzspektrum“ verwendet. Was genau ist damit gemeint?

Thomas Gehle:
Naja, wir haben wegen unserer Größe knapp über 70 Dozenten. Und was da an Wissen und Erfahrung allein bei den Dozenten liegt, ist schon ungeheuer. Das geben die Dozenten natürlich auch weiter. Ich kann auch mal ein paar Beispiele aus unserer praktischen Arbeit nennen: Wir haben beispielsweise für die ARGE Teamarbeit Hamburg mal so ein paar Projekte gemacht. Das fing an mit dreiwöchigen Workshops für Hartz IV-Empfänger.
Die habe ich am ersten Tag immer persönlich begrüßt, und am letzten Tag gab es dann so eine kleine Präsentation, bei der die Träger wie Grone kamen und sich das angeguckt haben.
Die Workshopteilnehmer haben sich nach drei Wochen teilweise so verändert, dass man gestaunt hat und meinte: Das kann doch nicht wahr sein! Die Dozenten sagten immer, dass es mit denen schwierig sei und dass es hart sei. Alle wollten aber auf jeden Fall weitermachen. Denn für die Dozenten war das ein Erfolgserlebnis, die Barrieren der Workshopteilnehmer zu knacken. Die konnten dann plötzlich über ihren eigenen Schatten springen, und für viele Teilnehmer war das ein großes Erfolgserlebnis. Die hatten vorher noch nie in ihrem Leben gesungen, aber die Dozenten haben es hingekriegt, dass die Workshopteilnehmer vor der gesamten Gruppe gesungen haben. Daraufhin haben wir dann ein anderes Projekt bekommen für alleinerziehende Frauen, also Müttern mit Kind. Und das war auch wieder ein großer Erfolg. Die standen nach drei Monaten auf der Bühne und haben ihr Schicksal, ihre Lebenssituation selber gespielt vor ganz vielen Behördenmitarbeitern. Es war erstaunlich, wie die Frauen wieder Selbstbewusstsein entwickelt haben. Dann haben wir ein Projekt bekommen für Jugendliche unter 25 Jahren mit Migrationshintergrund und ohne Ausbildung. Das war am Anfang sehr schwierig (lacht). Wir mussten denen erst einmal die Basics wie Pünktlichkeit beibringen. Später war ich mit diesen Jugendlichen im Schauspielhaus. Und da kamen die dann pünktlich, geduscht, frisiert und mit ausgeschaltetem Handy. Da hat man dann gesehen, dass man auch diese Jugendlichen noch formen kann, obwohl das dafür eigentlich schon ein wenig spät war. Wir haben für jede dieser Gruppen andere Dozenten ausgewählt. Für die Jugendlichen ohne Ausbildung haben wir dann einen Dozenten genommen, der selbst viel durchgemacht hat. Wir sind dank der großen Anzahl von Dozenten als Stage School sehr variabel und für alle Sachen gewappnet. Unsere Größe gibt uns also ganz andere Möglichkeiten.



Musical-Zeitung.de: Die Beliebtheit des Genres Musical ist in Hamburg besonders spürbar. In wie weit hat sich der Ausbildungsmarkt im Fachbereich Musical- und Musiktheater in den vergangenen Jahren verändert? Welche Entwicklung ist erkennbar?

Thomas Gehle:
Wir haben unter unseren Schülern immer mehr gute Leute. Das spricht sich auch herum. Wir hatten im dritten Ausbildungsjahr beispielsweise einen Lucas Baier, der ein Vollstipendium von uns hatte, weil der einfach toll ist. Im Februar hat er dann einen Vertrag für eine Hauptrolle bei Dirty Dancing als Tournee-Produktion bekommen. Den mehrfachen Hip Hop Weltmeister Dinipri Etebu hat man uns schon nach anderthalb Jahren aus der Ausbildung geholt, denn der hat eine Rolle bei „Der König der Löwen“ bekommen. Und Alina Wellbrock hat aus dem dritten Ausbildungsjahr direkt zum Musical „Grease“ gewechselt. Für die Schüler ist das natürlich schön, aber für uns als Schule ist das ein wenig doof, weil die auf einmal für das Abschlussprojekt nicht mehr zur Verfügung standen. Andererseits ist das auch toll, wenn man als Schule sagen kann, dass unsere Schüler so schnell gute Jobs im Musicalbereich bekommen.

Musical-Zeitung.de: Auf welche Weise haben sich die Anforderungen an den Musicalnachwuchs und an die Ausbildung der Stage School verändert?

Thomas Gehle:
Wir wissen auf jeden Fall heute genauer, was wir den Schülern in der Ausbildung bieten und abverlangen müssen. Denn als wir damals als erste Schule in dem Bereich anfingen, gab es praktisch nur „Cats“ als Musical in Hamburg. Wir waren uns bei der genauen Gestaltung der Ausbildung noch nicht ganz so sicher. Angefangen hat ja alles mit der Stage School for Dance and Drama. Die Frau von Volker Ullmann kam vom Ballett. Da wurden Schauspiel und Tanz zusammengeführt, und das sorgte für richtige Diskussionen bei der Kulturbehörde, die die staatliche Anerkennung nicht geben wollte. Damals war ich ja auch schon dabei und habe das mitbekommen. Ein paar Jahre später- als Gillian Scalici dazukam, kam auch der Gesang hinzu. So nannte sich diese Schule damals Stage School for Music, Dance and Drama. Von da an waren alle drei Dinge zusammengeführt. Wir müssen inzwischen einfach vielseitiger sein, weil die Zuschauer heute mehr Vergleichsmöglichkeiten haben. Insofern müssen wir uns schon anstrengen. Es ist nicht alles toll, was Musical heißt, und es ist auch nicht alles Musical, wo Musical draufsteht. Bei „Die Gefährten“ wussten viele Leute zum Beispiel nicht, was das genau ist- kein richtiges Musical, aber auch kein reines Schauspiel. Wir von der Stage School sind da mit hundert Schülern hingefahren, und alle waren begeistert. Ich fand das auch toll, aber man muss sich natürlich auch darauf einlassen. Die Zuschauer können heute sehr gut beurteilen, was gut ist und was nicht. Auch unsere Schüler sind heute sehr viel besser als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. Aber wir bemühen uns, das noch zu weiter steigern.

Musical-Zeitung.de: In wie weit muss die Stage School auf Veränderungen im Musicalmarkt reagieren? Spürt die Stage School den Wettbewerb?

Thomas Gehle:
Wir treffen uns ja regelmäßig bei den Hochschulpräsentationen, wo auch wir Leiter von Privatschulen eingeladen sind. Und wir Privatschulen müssen uns da nicht verstecken. Die Hamburg School of Entertainment hat aber inzwischen zugemacht. Wir wurden schon vor zwei Jahren gefragt, ob wir die letzten Schüler übernehmen können. Ich habe das auch bejaht unter der Voraussetzung, dass die Schüler das auch alle wollen und nicht gedanklich ihrer alten Schule verhaftet bleiben. Wir haben teilweise auch dieselben Dozenten. Es wäre theoretisch möglich gewesen. Die haben dann aber mit den verbliebenen Schülern die Schule auslaufen lassen. Letztendlich gibt es uns seit mehr als 25 Jahren, und es wird uns auch ganz sicher noch geben, wenn so manche andere Privatschule verschwunden ist. Wir haben vor ein paar Jahren mal angefangen, junge Talente, die noch zu jung für eine Ausbildung bei der Stage School sind, zu fördern. Entscheiden sie sich dann später für eine Ausbildung bei der Stage School, bekommen die von uns sämtliche Kosten für die Talentförderung zurückerstattet. Wir bekommen dadurch immer mehr gute Leute, weil wir für die Talentförderung nur Teilnehmer zulassen, die auch Talent haben.
Natürlich kostet uns das auch einiges. Ich denke dabei an eine Schülerin, die an ihrem ersten Schultag bei der Stage School einen Scheck über dreieinhalbtausend Euro von mir bekommen hat als Rückerstattung für die Talentförderung. Das tut dann schon weh, aber im Sinne der Talentförderung ist das schon gut und wichtig (lacht). Wir machen auch im November immer unsere Stipendiumsprüfungen, das heißt, alle diejenigen, die im Laufe des Jahres bei den Workshops durch gute Leistung aufgefallen sind und die kein Geld für die Ausbildung haben, laden wir noch einmal ein. Leider haben wir niemanden, der die Stipendien bezahlt. Das heißt, wir bezahlen die Stipendien selbst, indem wir aufs Schulgeld verzichten. Aber das kann man natürlich auch nur begrenzt machen. Wir freuen uns aber, wenn wir talentierte Leute, die nicht das Geld für die Ausbildung haben, nach Hamburg kriegen. Wir haben auch mittlerweile schon dreizehn Wohnungen angemietet, die wir für die Schülerinnen und Schüler herrichten, die ihre Ausbildung bei der Stage School machen wollen, aber keine Wohnmöglichkeit in Hamburg haben. Wir haben auch jetzt noch Schüler, die in Bremen oder Berlin wohnen und jedes Wochenende nach Hause fahren.



Musical-Zeitung.de: Was macht das Genre Musical, für das die Stage School den Nachwuchs ausbildet, so besonders und speziell?

Thomas Gehle:
Schauspiel ist elitärer als Musical. Man wirft dem Musical häufig vor, kommerzieller zu sein. Aber es ist auch unterhaltsamer. Ich bin mir sicher, dass mehr Zuschauer in ein Musical gehen als in ein reines Schauspiel. Ich glaube, dass viele Leute erst über das Musical an das Schauspiel herangeführt werden. Die Leute wollen unterhalten werden, und das werden sie meiner Meinung nach bei einem Musical besser als bei einem Schauspiel. Bei einem Musical gibt erst einmal eine Tanz-Audition, wo auf Tanz geachtet wird. Ein Schauspieler kann so toll sein, wie er will, erst einmal interessiert ein Musicalproduzent sich dafür, ob ein Darsteller überhaupt tanzen kann. Da fliegen so manche gute Schauspieler eventuell schon raus. Dann wird geguckt, ob sie singen können. Und wenn ein Darsteller auch noch schauspielerisch gut ist, freut man sich als Musicalproduzent. Aber das ist nicht die erste Priorität. Das müssten die Produzenten auch mal ein bisschen überdenken.Aber eigentlich ist das auch nachvollziehbar, wenn man sich die Entwicklung des Genres Musical anguckt. Damals hat man sich Darsteller von Übersee geholt, die gut tanzen und singen konnten. Aber wie sollte ein Darsteller auch schauspielerisch gut sein, wenn er die Sprache hierzulande nicht beherrschte? Heute hat sich das natürlich auch teilweise schon wieder verändert, so dass man auch bei Musicalinszenierungen stärker aufs Schauspiel achtet.

Musical-Zeitung.de: Die Stage School zeigt seit 2013 wieder Musicals als Abschlussveranstaltung der Absolventen. Dieses Jahr fiel die Wahl auf „Hairspray“. Nach welchen Faktoren werden die Musicals, die anstelle von Gruppen- und Solopräsentationen aufgeführt werden, ausgesucht?

Thomas Gehle:
Wir haben ganz zu Anfang schon Musicals gezeigt. Unser Abschlussjahrgang wurde aber immer größer, und es gibt nicht so viele Musicals mit entsprechend vielen großen Rollen. Wir wollten damals schon Produzenten und Talentsuchern zeigen, was die Absolventen können. Daher haben wir unsere Showcase-Veranstaltungen aufgeführt mit einem Rundumschlag aus verschiedenen Musicals. Bei einem richtigen Musical aber muss man vieles zusammenführen. Da braucht es Stellproben, Choreografien und Kostümproben. Die Produzenten, die sich einen Eindruck vom Können der Absolventen machen wollen, finden Musicals viel besser. Die Hauptrollen sind meistens bei großen Produktionen schon lange vorher besetzt. Wichtig ist den Produzenten aber, wie sich ein Darsteller in einer Nebenrolle verhält. Die können viel besser anhand einer Nebenrolle beurteilen, wie ein Schauspieler sich im Ensemble verhält. Viele unser Schüler werden von mal zu mal besser. Deshalb versuchen wir, so viele Aufführungen wie möglich zu machen. Bei „Hairspray“ hatten wir sechzehn Aufführungen. Es ist auch viel einfacher, die Karten für ein Musical zu verkaufen als für einen Showabend mit Ausschnitten aus Musicals. Es hängt auch davon ab, ob wir überhaupt im Sommer Veranstaltungsräume kriegen und zu welchen Konditionen. Früher hatten viele Theater einfach Sommerpause. Ich finde, dass eine Musicalproduktion ein schöner Abschluss für die Ausbildung ist. Es liegt an ganz verschiedenen Faktoren, für welches Musical wir uns entscheiden. Wir müssen zuerst einmal gucken, wo der Schwerpunkt unseres dritten Jahrgangs liegt. Dann muss man mal gucken, ob man das Musical, das man gerne spielen möchte, auch aufführen darf. Ich finde es auch nicht gut, wenn man ein altes Musical mit jungen Absolventen bringt. Das wäre dann albern. Es gibt in Amerika für High Schools die Juniorfassungen. Da bekommt man fertige Playbacks für die Musik. Die Musicals sind dann auch schon gekürzt, aber nicht für jedes Musical gibt es Juniorfassungen. Ich habe mich dieses Jahr für „Hairspray“ entschieden, weil es bekannt ist. Ich habe das Musical auch einmal mit Uwe Ochsenknecht auf der Bühne gesehen habe und er hat mir in der Rolle gefallen. Das habe ich ihm sogar in einem Brief geschrieben in meiner Eigenschaft als Geschäftsführer der Stage School. Es kam aber keine Antwort (lacht).

Interview: 08/2014